Auf die Frage antwortet jeder im Brustton der Überzeugung
mit „Nein, natürlich nicht!“. Doch seien wir mal ehrlich, manchmal vertuschen
wir die Wahrheit.
Ungefähr zweimal
täglich, so heißt es, verdrehe jeder Mensch die Wahrheit oder auch in zwei von
drei Gesprächen, die mindestens zehn Minuten dauern. Es kursiert auch die Zahl
von 200 Lügen pro Tag in den Medien, oft zitiert – doch ohne Beleg.
Fakt ist: Alle lügen, aber niemand will belogen werden.
Schauen wir erstmal ins Tierreich: Können Affen überhaupt lügen?
Der Gorilla
Michael zerriss einmal die Jacke seiner Trainierin Ellen. Sie fragte ihn:
"Wer war das?" Michael zeigte seine Käfiggenossin. Ellen fragte nach.
Michael probierte es mit noch einem anderen Namen (diesmal ein menschlicher
Betreuer); aber am Ende, als Ellen nicht nachließ, beichtete er dann doch:
"Mike."
Das ist eine
bewusste Täuschung. Auch jenseits solcher Anekdoten in kontrollierten
Experimenten zeigt sich, dass jedenfalls die allernächsten Verwandten des Menschens die Finessen des Vertuschens beherrschen.
Das Talent
zur Lüge sitzt dem Menschen seit Urzeiten in den Genen. Die Sprache hat
geholfen, es zu perfektionieren. Zwar gibt der Mensch vor, die Wahrheit zu
lieben, aber er kann sich nicht immer daran halten, diese Neigung wohnt ihm
inne, er kann nicht anders.
Jeder lügt.
Politiker geben falsche Wahlversprechen, Schriftsteller verkaufen Plagiate als
ihr Werk, Manager beschönigen Bilanzen. Frauen täuschen über ihre Lust im Bett,
Männer über die Tiefe ihrer Gefühle für die Frau in ihrem Bett.
Die Motive des Lügners
Es zeigt
sich: Der Mensch ist tatsächlich zum Lügen geboren.
Selten führt
der Mensch dabei Böses im Schild. Es geht meistens nicht darum Geschichten zu
erfinden, um den Gegner zu vernichten oder zu bluffen, oder um Leute zu
betrügen, zu bestehlen, zu erniedrigen.
Viele
Menschen tricksen sich mit vielen kleinen Täuschungen durchs
Leben; meist steckt die Angst vor Strafe oder Gesichtsverlust dahinter.
Scham kann ein Motiv sein ("Nein, ich
hab gestern Abend nichts getrunken, keine Ahnung, wie die Beule ins Auto
gekommen ist"), wir werden aber auch erfinderisch, wenn wir Kritik
fürchten ("Natürlich habe ich den Kunden rechtzeitig gewarnt"), und
dosieren die Wahrheit, wenn es darum geht, die Ehe zu erhalten
("Tom ist wirklich nur ein guter Freund") oder die Freundschaft
("Was für ein süßes Baby!"). Auch die Höflichkeit
verlangt nach Ausflüchten ("Wirklich, das Essen war köstlich").
Die
Schönfärbereien, Mehrdeutigkeiten und Ausweichmanöver dienen der Psychohygiene,
sie sind Weichzeichner der Wirklichkeit. Jedenfalls gilt das für die
sogenannten prosozialen Lügen, die der Amerikaner "white lies" nennt.
"Sie sind lebenswichtig", sagt Aldert Vrij, Lügenforscher an der
University of Portsmouth, "das Leben wäre rau und grausam, wenn die Leute
immerzu die Wahrheit sagten."
Die Interpretation
Vor allem
geht es darum, wie wir selbst Wahrheit und
Unwahrheit bewerten, die eigene und die der anderen.
Das kann die
folgende Lügengeschichte zeigen. Sie spielt 1944.
Jakob, der
Bewohner eines polnischen Ghettos schnappt zufällig einige Fetzen aus einem
Radio auf. Ihm wird bewusst, dass diese Nachricht den Ghettobewohnern
einen konkreten Anlass zum Durchhalten geben würde. Um die
Glaubwürdigkeit seiner Information zu erhöhen, behauptet Jakob, er habe ein Radio.
Er erfindet also ein Radio und gibt dessen angebliche Meldungen an seine
Mitgefangenen weiter. Der Besitz eines solchen Radios ist im Ghetto natürlich
verboten. Durch seine Notlüge gerät Jakob in die Zwangslage, ständig
neue
Nachrichten erfinden zu müssen, was zu tragikomischen Situationen führt.
Durch die
Lügen schöpfen die Ghettobewohner hingegen einerseits wieder Hoffnung. Sie
schmieden Pläne. Die Selbstmordrate geht zurück. Man wartet voller Zuversicht
auf die Befreier. Andererseits befürchten einige der Leidensgenossen, dass die Entdeckung
des Radios durch die deutschen Besatzer so kurz vor der Befreiung alle
gefährden könne.
Der Roman
„Jakob der Lügner“ (Jurek Becker) erzählt von einem Mann, der mit seiner Lüge
die Illusion von Freiheit und Zukunft schafft und zugleich sein Leben aufs
Spiel setzt.
Ich habe festgestellt,
Lügen ist ein schier unerschöpfliches Thema. Deswegen folgt bald Teil 2 "Wie man Lügen erkennt!"
Nu sag mein lieber Leser, wie
hältst du es mit der Wahrheit und der Lüge?
V. Krytzner für Stimmperlen
Bild: ©sakkmesterke - Fotolia
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